ABGEDREHT

Bob ging die Straße hinunter zu dem kleinen Laden, um für seine Frau ein Fieberthermometer zu kaufen. Der Laden gehörte dem alten Smitty und in einer kleinen Stadt wie Blackstone trifft man dort nie mehr als ein, zwei Nachbarn und den alten Smitty persönlich, der ihnen eine seiner alten Kriegsgeschichten erzählt. Heute war es anders.

Bob sah aus der Ferne bereits, dass sich vor dem Laden ungewöhnlich viele Menschen versammelt hatten. Kreuz und Quer parkten Autos vor seinem Laden und die Leute luden hektisch vollgepackte, schwere Taschen und Körbe in Kofferräume und auf Rücksitze. Als Bob noch näher kam, bemerkte er, wie sehr die Menschen in Aufregung waren. Es war keine Panik, noch nicht, aber diese Menschenmenge, die ihn an ein Wespennest erinnerte, gegen das man einen Fußball gekickt hatte, war für Blackstone ein ungewöhnlicher, beinahe einzigartiger Anblick. Bob wurde flau im Magen und er überlegte, ob er vielleicht später wiederkommen sollte. Aber seine Frau hatte ihn um ein Fieberthermometer gebeten und er würde Sue eins besorgen. Also drängte er sich an den Leuten vorbei, zum Eingang des Ladens. Er kannte die meisten. Mr. Henderson, sein alter Mathelehrer, immer zu einem Spaß aufgelegt, an diesem Tag nur eine ernste Miene. Mrs. Barnett, Krankenpflegerin im St. Lukes Seniorenheim, wo sein Vater wohnte – sein alter Herr schwärmte immer für die reizende rothaarige Lady. Sie übersah ihn komplett, stieß ihn sogar grob zur Seite, damit sie sich mit ihrem bis oben hin beladenen Einkaufswagen, gefüllt mit Konserven jeglicher Art, in die lange Schlange vor der Kasse einreihen konnte. Der alte Smitty war völlig überfordert. Seine Aufgabe bestand an diesem Tag darin, die Leute, die sich vor der Kasse drängten, zu beruhigen und ein Junge, eine Aushilfe vermutlich, kassierte währenddessen. Dem armen Jungen stand seine Überforderung ins Gesicht geschrieben und Schweißperlen rannen über seine Stirn. Bob spürte, wie die Stimmung sich aufheizte, die Menschen sich immer dichter drängten und lauter schrien. Er verstand nicht, was auf einmal mit seinen freundlichen und immer so entspannten Nachbarn geschehen war. Wieder wurde er angerempelt, diesmal so stark, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Andrew Stewart, ein Deputy vom Sherriffs Departement, immer noch in Uniform, stieß ihn mit seinem Einkaufswagen einfach so zur Seite. Bob schrie kurz auf, weil ihn der Stoß in die Hüfte so schmerzte, aber Andrew nahm es gar nicht wahr. Vorsichtig und sich diesmal nach allen Seiten umblickend, suchte Bob das Regal mit den Medikamenten, Arzneien, Verbandszeug und Fieberthermometern. Erschrocken stellte er fest, dass es leer war. Nichts war mehr da. Dann erst begann er zu realisieren, dass die Regale des gesamten Ladens falls vollständig geleert waren. Er versuchte einen der Leute anzusprechen, um zu erfahren, was denn los sei; ob der alte Smitty seinen Laden aufgibt und alles zu Spottpreisen verhökern würde. Aber das konnte es ja nicht sein. Seine Nachbarn würden sich niemals aufgrund eines Ausverkaufs derart seltsam verhalten. Plötzlich ertönte ein lautes, unheimliches Signal und die Menschen verstummten von jetzt auf gleich. Es war der alte Fliegeralarm, der einmal im Monat immer noch vom Turm der alten Feuerwache aus geht. Die Sirene. Aber es war noch gar nicht Zeit dafür. Der Probealarm dauerte immer von zehn bis fünf nach zehn Uhr morgens. Jeden ersten Samstag im Monat. Schon als Kind fand er ihn unheimlich, aber noch nie hatte es ihn dermaßen in Furcht versetzt, wie heute. Bob blickte sich um. Jetzt sah er Panik in den Augen der Menschen. Schiere Panik. Alles war für einen kurzen Augenblick eingefroren. Niemand schien auch nur zu atmen. Nichts war zu hören, als das Auf- und Abtönen dieses fürchterlichen Signalhorns. Dann durchbrach der erste die Stille. Bob erkannte ihn. Es war Peter Mahony, Bankangestellter und er war vor fünf Wochen Vater eines Sohnes geworden, Benjamin. Er und seine Frau hatten das Haus an der Primlane gekauft, nicht weit von Bobs eigenem Haus. Peter preschte mit seinem prall gefüllten Einkaufswagen auf den Ausgang zu und ihm war egal, das seine Nachbarn, darunter auch Ältere und Kinder, ihm im Weg standen. Die Panik hatte eine gewaltige Kraft in ihm freigesetzt und er durchpflügte den Laden bis zum Ausgang. Peters abrupter Ausbruch zog direkt Nachahmer nach sich und es folgte eine Kettenreaktion der Gewalt, ein blutiges Schauspiel, indem jeder sich selbst der Nächste war und es nur darum ging, sich und seine Waren hinaus zu schaffen, koste es was es wolle. Bob war erstarrt. Seine Augen konnten nicht fassen, was dort geschah. Sein Verstand konnte nicht begreifen, wer diese Menschen waren, die er erst noch für seine Nachbarn hielt. Jetzt waren es fremde, blutrünstige Wesen, die zu allem bereit waren. Er tastete sich Schritt für Schritt nach hinten, immer noch fast wie gelähmt von dieser surrealen Begebenheit, von diesem Alptraum. Und es wurde schlimmer. Die Menschen begangen sich zu schlagen, zu kratzen, zu beißen, zu treten. Große, kräftige Männer schlugen auf kleine, zarte Frauen und Kinder ein. Blut ergoss sich, Knochen splitterten, Schreie übertönten das Sirenengeheul. Bob schüttelte seinen Kopf. Es war ein Alptraum und er wollte einfach nur aufwachen. Weg von hier. Nur weg. Im Augenwinkel bemerkte er zwei Gestalten, die sich von der Schlacht entfernten. Es waren der alte Smitty und der Junge, der ihm aushalf. Sie stahlen sich durch die Hintertür. Smitty hatte seinen Laden aufgegeben und rettete sich und den Jungen. Bob wartete nicht lange, sondern folgte ihnen. Auf dem Weg zur Tür traf sein Blick auf ein kleines Paket, dass auf dem Boden lag. Es war vermutlich aus einem der vielen überfüllten Einkaufswagen gefallen. Ein Fieberthermometer. Bob schnappte es sich und er verschwand durch die Hintertür. Smitty und der Junge waren bereits in seine Pickup gestiegen, als Bob nach draußen auf den Hinterhof trat. Mit quietschenden, durchdrehenden Reifen raste der Pickup davon und Smitty hätte ihn fast überfahren, wäre er nicht schnell ein Schritt zurück gewichen. Vorne vor dem Laden zerrissen Schreie die Luft. Frauen, Männer, Kinder. Bob entschloss sich, einen Umweg zurück nach Hause zu gehen, die Masse so weit wie möglich zu umgehen. Dann donnerte der Schuss eines Gewehrs durch die Stadt und das Geschrei entflammte sich mehr und mehr. Bob rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war.

Er schob seinen Haustürschlüssel in das Schloss und öffnete die Tür. Schnell ging er hinein und schloss gleich wieder hinter sich ab. Wie konnte er seiner Frau nur erklären, was gerade passiert war? Er konnte es ja selbst kaum begreifen. Aber er hatte das Fieberthermometer. Langsam und benommen ging er die Treppen hinauf. Vorher hatte er seine Schuhe ausgezogen. Ein unbewusster Reflex – er wollte den neuen Teppich, den sie erst vor vier Tagen haben legen lassen, nicht gleich wieder dreckig machen. Das würde sie ihm nicht so schnell verzeihen. Er ging am Badezimmer vorbei und dabei bemerkte er, dass Sue immer noch nicht geduscht hatte, was sie eigentlich tun wollte, als er sich auf den Weg gemacht hatte. Sie hatte gesagt, es würde ihr wieder etwas besser gehen.
„Sue?“
Keine Antwort. Er öffnete die Schlafzimmertür und die Jalousie war noch immer runtergezogen.
„Sue, Liebling. Ich habe ein Thermometer für Dich bekommen.“
Er setzte sich behutsam auf die Bettkante. Ihre Augen waren geschlossen.
„Du glaubst nicht, was ich vorhin beim alten Smitty erlebt habe.“, flüsterte er, in der Hoffnung, dass sie einfach nur im Halbschlaf vor sich hindöste. Sie antwortete aber nicht.
„Sue? Sue?!“
„Bob!“
Ihre Augenlider schnellten auf und sie war hellwach.
Bob sprang vor Schreck auf, setzte sich gleich wieder und hielt sich die Hand vor die Brust. „Bob, meine Güte! Du hast mich erschreckt! Ich bin wohl nochmal eingeschlafen.“
Er lächelte, nein, er lachte sogar, setzte sich wieder zu ihr und legte seine Hand auf ihre Stirn.„Entschuldige, Liebling. Du hast mich ein wenig erschreckt.“
Er fühlte keine Temperatur.
„Dein Fieber ist weg.“
„Hast Du für mich ein Thermometer bekommen? Vielleicht wäre es gar nicht nötig gewesen.“
Bob reichte es ihr und erinnerte sich jetzt wieder an die Situation in Smittys Laden, wie Bilder aus einem Alptraum.
„Sue, bei Smitty… in seinem Laden ist etwas ganz furchtbares geschehen… ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll…“ Traurig blickte er zu Boden und suchte nach Worten.
„Oh nein,“, sagte Sue und legte ihre Hand auf die seine, „ist der Dreh etwa ausgefallen?“
Bob warf die Stirn in Falten, blickte sie irritiert an und sie erkannte das große Fragezeichen.„Der Dreh! Die ganze Stadt hat doch deswegen verrückt gespielt und wochenlang für diese bescheuerte Serie geprobt.“
Bob blieb stumm und wartete auf eine Antwort und dann ahnte Sue Schreckliches. Bob war zwei Wochen auf Montage in Aberdeen und hatte es nicht mitbekommen. Erst gestern Abend war er wiedergekommen und sie konnten sich wegen ihrer Grippe kaum austauschen.
„Oh nein, Bob, Du dachtest doch wohl nicht etwa wirklich, dass…“
„Was dachte ich?!“
„Oh, Bob… das ist ein Dreh. Film! Fernsehen! Vor ein paar Wochen wurden wir in der Stadtversammlung gefragt, ob einige als Statisten für irgendeinen Endzeit-Thriller mitspielen möchten. Der Regisseur, Robert… irgendwer…, war dabei, der in Blackstone aufgewachsen ist und es unbedingt als Kulisse haben möchte. Wir stimmten ab… und der alte Smitty entpuppte sich sogar als rigoroser Fan des Genres. Wir waren dafür, viele waren begeistert. Wir haben geprobt und heute findet der Dreh statt. Ich hielt mich daraus… Du kennst mich. Für so etwas habe ich nichts übrig. Ich hätte es mir aber selbst gerne angesehen, aber dann bekam ich diese Grippe, lag flach und hab ganz vergessen, Dir davon zu erzählen. Liebling, das tut mir leid!“
Bob schüttelte unverständig den Kopf und konnte nicht fassen, was er dort hörte.
„Aber das Blut… die Schreie… und ich habe nirgendwo Kameras gesehen. Es sah einfach nicht aus wie ein Filmset!“
„Oh, Honey, das wurde uns auch erklärt. Der Regisseur verwendet eine bestimmte Methode. Je weniger es nach Filmset aussieht, desto authentischer können Statisten und Schauspieler agieren. Die Filmtechnik von heute soll es wohl möglich machen. Es ist doch alles so kleine geworden… Liebling, es tut mir so leid.“
Sie streichelte ihm liebevoll den Arm und erkannte mehr und mehr, was er durchgemacht haben musste. Sie griff nach ihrem Laptop und googelte die Anzeigen aus der Blackstone Gazette für ihn heraus. Sie drehte den Laptop und er sah Bilder der Vorarbeiten für den Dreh und den alten Smitty, der die Hand des Regisseurs schüttelte, als er sich ein Autogramm abholte. Bob fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht und fühlte sich, als wäre er aus einem Alptraum erwacht.
„Ich werd uns mal nen Kaffee machen.“
Er drückte fest Sues Hand, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schlappte hinunter in die Küche. Der Kaffee würde ihm so gut schmecken, wie schon lange nicht mehr.

ENDE

8 Kommentare zu „ABGEDREHT

  1. Eine Geschichte, die gerade jetzt gut passt. Auch eine Geschichte, die einem herrlich spiegelt, dass man das, was man denkt, doch bitteschön, ruhig noch einmal überdenken soll.

    Ja, ich „fiel drauf rein“, auch wenn es so wahrscheinlich gar nicht gedacht und geplant war. Trotzdem. Für mich eine Lehre.

    Als ich anfing zu lesen, war mein erster Gedanke: „Ach, bitte nicht schon wieder Corona.“ Ich las zu Ende. Zum Glück. Ich hätte ja auch, nach dem ersten Gedanken meinerseits an Corona, aufhören können.

    Vielen Dank für diese wundervolle Geschichte und ihrer „Lehrer“, die zumindest ich für mich daraus, wieder einmal, ziehen durfte und konnte.

    Herzlichst,
    das Licht

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    1. Lieben Dank für das nette Feedback. Freut mich, dass Dir die kleine Geschichte – und anscheinend besonders das Ende – gefiel! 😊 Liebe Grüße!

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