GOTT DER SECHS HÖLLEN

Vor Jahren entdeckte ein Forscherteam einen letzten, bislang verborgenen Tempel der Maya. In ihm befand sich ein Artefakt, dass alles, was man über ihre Kultur bisher zu wissen glaubte in Frage stellte. Die junge Archäologin Emilia Ambrose versucht die geheimnisvolle Inschrift einer goldenen Tafel zu entschlüsseln, die an einem Altar des Tempels gefunden wurde. Ein Blutaltar, der dem Gott des Todes und der sechs Höllen der Maya geweiht ist: AH PUCH.


Die Nacht hatte ihren kalten, dunklen Mantel um die Fassade aus weißem Marmor der zwanzig Meter hohen griechischen Säulen gelegt, die dem majestätischen Komplex den Anmut eines antiken Tempels verliehen. Das MET, das Metropolitan Museum of Art in New York, bleibt auch nach den Öffnungszeiten ein magischer Ort.

Zahlreiche Schätze, Reliquien und Artefakte längst vergangener Epochen werden jährlich in diesem kulturellen Sammelsurium Millionen von staunenden Betrachtern vor Augen geführt. An diesem Ort werden die Reiche des antiken Griechenlands, Ägyptens, Byzanz, des Orients, Asiens und Afrikas durch dutzende der erlesensten Kollektionen wieder zum Leben erweckt.

In der Nacht, nachdem die Letzten Besucher diesen ehrwürdigen Tempel verlassen hatten und Museumsführer, Kassenwarte und das Management ihren Feierabend angetreten waren, machte sich ein mehr oder weniger eifriges Bataillon aus Reinigungskräften daran, diesen Ort, an dem sich die Zeiten auf zauberhafte Weise kreuzten und vergessene Epochen wieder zum Leben erweckt wurden, von den weniger ruhmreichen Hinterlassenschaften des Massentourismus zu befreien. Kinderkotze wurde vor der 2500 Jahre alten Statue einer Sphinx aufgewischt, eingetretene Pommesreste aus dem Korridor des Gekreuzigten Jesu aufgefegt und sogar benutzte Kondome aus den Räumen für klassische mittelamerikanische Kunst mit größter Vorsicht und tiefstem Ekel aufgelesen.

Die Anmut und der Zauber lagen also immer im Auge des Betrachters. Dennoch gibt es auch eine Wirklichkeit, die sich unweigerlich außerhalb der wahrnehmbaren Sphären des Menschen befindet, etwas, das durch die Zeiten bestehen bleibt. Mächte, die nur darauf warten, wiedererweckt zu werden.   In einem kleinen Büro in den oberen Stockwerken, in dem sich Bücher, Akten und diverse antike Kleinode bis an die Decke stapelten, kämpfte die 29-jährige Emilia Ambrose gegen ihre fortschreitende Müdigkeit. Normalerweise war die Nacht ihre gewohnte Arbeitszeit, aber diese Woche hatte es wahrlich in sich. Nach jahrelangem Ringen in zahlreichen Verhandlungen hatte das Museum die Regierung Guatemalas endlich für sich gewonnen um die Statue von AH PUCH, dem Totengott der Mayas, und die geheimnisvolle goldene Tafel für zwei Jahre in einer Sonderausstellung der Öffentlichkeit präsentieren zu können. Sie waren das Herzstück einer präklassischen Ausstellung, die sich der Entstehung der Maya Kultur widmete und ihre religiösen und kultischen Wurzeln in ganz neuem Licht erscheinen lassen sollte. Ein einzigartiger Fund, nachdem die Geschichte dieses sagenhaften Volks umgeschrieben werden müsste, wenn sich Emilias Theorie bewahrheiten ließe.                Emilia war eine junge Archäologin, die die Frühphase der Mayakultur, speziell um ihren reichen Götterkult, zu ihrem Spezialgebiet erkoren hatte. Sie veröffentlichte in ihrer kurzen, aber intensiven Karriere bereits zahlreiche Studien zur Entstehung und Entwicklung des facettenreichen Pantheons der Maya und leitete viele internationale Forschungskooperationen in Yucatan, Mexiko.

Die Statue des AH PUCH wurde acht Jahre zuvor von einem Archäologenteam in den tropischen Dschungelwäldern des guatemalischen Tieflandes entdeckt. Aber die Entdeckung sorgte aufgrund eines Unglücks in der Tempelruine für schlechte Schlagzeilen, denn sechs Forscher des fünfzehnköpfigen Teams verloren ihr Leben durch eine uralte Fallenkonstruktion.

Als das Team die Opferkammer des Mayagottes geöffnet hatte, wurde der zu ihr führende Tunnel von einer giftigen Wolke aus hochkonzentrierter Salzsäure geflutet und die Mitglieder, die der Öffnung am nächsten standen, lösten sich langsam und unaufhaltsam in ihre Bestandteile auf. Der Rest des Teams konnte nichts dagegen unternehmen und musste dabei zusehen, wie sich nach und nach das Fleisch von den Knochen ihrer Kollegen löste und ihre Augäpfel dahinschmolzen, während ihr Blut aus sämtlichen Körperöffnungen strömte. Gezeichnet von dem traumatischen Ereignis würden Alpträume den verbliebenden Rest des Teams ein Leben lang verfolgen. Die grauenhaften Bilder der letzten Augenblicke im Leben ihrer Freunde, ihre Schmerzensschreie und ihr Flehen um Erlösung würden ihnen auf ewig in Erinnerung bleiben.

Die Maya wollten, dass niemand diesen Tempel betritt, oder das, was in ihm verbogen liegt nach außen trägt. Trotzdem errichteten sie ihn, um dem Gott Tribut zu zahlen, vor dem sie sich so sehr fürchteten. Doch letztendlich wurde der Kult des AH PUCH durch ein schweres Erdbeben vernichtet, das den Tempel und sein anliegendes Dorf in die Tiefe riss und unter der Erde begrub. Der Tempel nahm das Geheimnis um seinen Kult mit in sein dunkles Grab.   Emilia ging nochmals die Notizen für die Präsentation zur Eröffnung am nächsten Tag durch. Ihr großer Aufreißer blieb natürlich der Tempel und der Gott, auf dessen Altar die blutigen Opfer dargebracht wurden und aus dessen Codex die verhängnisvolle Macht des AH PUCH herbeigeschworen wurde. Eine goldene Tafel, deren Symbole und Piktogramme bisher nicht entschlüsselt werden konnten.                    Ah Puch, Herr von Metnal, Herrscher der Unterwelt, der sechs Höllen der Maya. Das Volk fürchtete ihn unter all ihren Göttern am meisten. Zahlreiche Menschenopfer sollten ihn gütig stimmen und sein Volk vor Feinden beschützen. Er war der Dämon der Zerstörung. Er trat als bizarres, hybrides Wesen in Erscheinung. Eine skelettöse Bestie, halb Mensch, halb Schlange, die seine Opfer in die Tiefen des Fegefeuers zerrte, wo sie unaussprechliche Qualen erlitten.

Die Statue, die an diesem Tag in der Haupthalle des MET aufgestellt wurde, ist eine einzigartige Darstellung von AH Puch. Emilia geht davon aus, dass sich aus ihr im Laufe der Jahrhunderte viele verschiedene Abbilder und Variationen entwickelt hatten, die wiederentdeckte Statue, der Tempel und das umliegende Dorf jedoch den blutigen Ursprung des Kults darstellte. Berge von menschlichen Schädeln türmten sich in der großen Opferhalle im Tempel des Ah Puch. Ein letztes Opfer, bevor der Tempel in Vergessenheit geriet, wurde mumifiziert in einem steinernen Sarkophag entdeckt, zusammen mit der wahrscheinlich ältesten Schrift der Mayakultur. Eine piktografische Darstellung auf einer goldenen Tafel. Die Entschlüsselungsprogramme der Universitäten liefen auf Hochtouren, um sie zu entziffern. Bisher vergeblich. Aber noch in dieser Nacht sollten die vergessenen Worte wieder in der Welt erschallen.

„Mrs. Ambrose, gönnen Sie sich eine Pause und trinken Sie einen Kaffee mit mir. Diesmal bin ich dran, sie einzuladen.“

Emilia schreckte auf und ihr Herzschlag setzte für einen kurzen Moment aus. Aber es war nur die gute Rose, die ihren Kopf durch die Bürotür steckte und nicht der Gott des Todes. Emilia war gewohnheitsmäßig immer so tief in ihrer Arbeit versunken, dass sie alles, was um sie herum passiert, nicht mehr wahrnimmt. Und wenn eine Stimme sie dann mitten in der Nacht in einem einsamen, riesigen Museum aus den Gedanken riss, die sich gerade mit dem blutigsten Pfund in der Geschichte der Maya beschäftigte, waren selbst Emilias Nerven irgendwann am Ende. Ein Zeichen, dass sie tatsächlich eine Kaffeepause gut gebrauchen könnte.

„Rose, bitte tu so etwas nie wieder.“, warnte Emilia ihre Freundin, atmete dann erleichtert auf und nahm ihre Hand wieder von der Brust. Sie lächelt Rose verschwörerisch an und winkte sie herbei. Rose stellte ihren Mob vor der Tür ab, entledigte sich ihrer Einmalhandschuhe und trat ein.

„Hast du die Halle mit den neuen Ausstellungsstücken schon gesehen?“, fragte Emilia. „Noch nicht, aber vielleicht hast du ja Lust sie mir zu zeigen? Du siehst aus, als könntest du siehst fürchterlich aus. Hast du in den letzten Tagen überhaupt geschlafen?“                Emilias kommentarloser und schuldbewusster Blick deutete auf ein Nein. „Eigentlich steht die Halle auf meinem Reinigungsplan, aber ich habe Bob darum gebeten, für mich einzuspringen. Ich habe viel über AH PUCH und seinem Kult in der Bibliothek gelesen, aber bei der Beschäftigung mit diesem Teil meiner Ahnen gefriert mir das Blut in den Adern. Bob ist da wesentlich unempfindlicher. Er setzt sich einfach seine Kopfhörer auf und fängt an zu bohnern, singt lauthals seine Abba Hits und tanzt… Er ist ein guter Tänzer.“

Für einen kurzen Augenblick beschwor diese Aussage sehr verwirrende Bilder in Emilias Kopf herauf, die sie lieber schnell wieder vergessen wollte (Bobs zuckendes Hinterteil verursachte trotzdem ein unerwünschtes Nachbild auf Emilias Netzhaut).          „Er ist nicht unempfindlicher, er ist unempfänglicher. Das ist ein gewaltiger Unterschied.“ Emilias nahm ihre Brille ab und machte eine bedeutungsschwangere Pause, bevor sie weitersprach.

„Du interessierst dich wahnsinnig für all das hier und ich sehe dich jeden Abend in der Bibliothek. Willst du es dir wirklich nicht überlegen, deinen Abschluss nachzuholen und dich an ein Studium wagen? Wir können engagierte Leute wie dich gebrauchen. Du glaubst nicht mit wie vielen Pfeifen ich es zu tun habe, die denken, ein Archäologiestudium würde aus ihnen eine Lara Croft machen und sie würden permanent zu exotischen Locations reisen, von einem Abenteuer und Lover zum Nächsten.“

Emilia zügelte sich, als sie Rose tadelnden Blick bemerkte, unterbrach ihre Predigt und besann sich darauf, wie sie sich selbst wohl anhören musste. Wer war sie, Rose irgendwelche Lebensweisheiten zu vermitteln? Sie kam aus einem wohlsituierten Elternhaus und konnte sich nicht im Geringsten vorstellen, was Rose durchmachen musste, um in den Staaten einen einfachen Job zu bekommen.

„Entschuldige, Rose. Ich sehe nur so viel Potential in dir, das ich bei Weitem nicht bei anderen sehe und es ist einfach nicht fair, wenn du nicht wenigstens eine Chance bekommst.“

Rose blickte jetzt verlegen zu Boden. Sie führte mit Emilia nicht zum ersten Mal dieses Gespräch. Seit einem Jahr kannten sie sich jetzt. Vor zwei Jahren hatte sie Mexiko City verlassen. Sie lernten sich bei einer Führung kennen, die Emilia durch das Museum geleitet hatte und Rose hatte damals interessehalber vor ihrer beginnenden Nachtschicht an ihr teilgenommen. Die Führung war für eine Gruppe Studenten reserviert gewesen, aber ihr Dozent hatte nichts dagegen, dass Rose sich ihr anschloss. Sehr bald stellte sich heraus, dass Rose wesentlich besser mit der Materie vertraut war, als die mehr oder weniger interessierten Studenten. Im Gegensatz zu ihnen hatte Rose sich schon als kleines Mädchen in der Bibliothek verbarrikadiert. Dort konnte sie dem nicht ungefährlichem Alltag auf der Straße entfliehen und ihre Gedanken auf eine weite Reise schicken.

Rose war gebürtige Mexikanerin, genauer gesagt eine waschechte Maya aus Yukatan und sie interessierte sich deshalb schon immer für die Kultur ihrer Ahnen. Viele Stunden verbrachte sie auch an diesen Tagen noch nach der Arbeit in der Bibliothek im Museum, um mehr über ihr Volk zu erfahren. Die Geheimnisse ihrer Vorfahren zog sie in einen starken Bann und sie verbrachte jede freie Minute wie in Trance zwischen den hohen Bücherwänden und tauchte hinab in die verborgene Welt.

In der Cafeteria kam sie eines Tages nach einer Führung mit Emilia ins Gespräch und sie verblüffte sie ihren Kenntnissen und Fragen, die sie ihr stellte. Seitdem treffen sie sich wöchentlich zum Kaffee, wenn es ihnen die Zeit erlaubte. Die Mayakultur blieb dabei ihr Hauptthema und Rose lernte viel von Emilia, die ihr hilfreiche Tipps zu verschiedenen Quellen und Arbeiten herausragender Forscherinnen und Forscher geben konnte.

„Du hast leicht reden, aber selbst, wenn ich meinen Abschluss nachhole, die Gebühren für ein College werde ich mir einfach nicht leisten können. Ich habe jetzt schon eine Menge Schulden.“ In Rose Stimme klang ein tiefes Bedauern mit und Emilia schämte sich sehr, dass sie Rose gegenüber so unbeholfen und unsensibel war. Manchmal glaubte sie, durch ihre Arbeit an Sensibilität gegenüber anderen Menschen zu verlieren. Rose war in dieser Hinsicht das komplette Gegenteil. Sie trug ihr Herz auf den Lippen und ihre Augen sprühten vor Leidenschaft, vor allem wenn es um die Maya ging.

Vor fünf Jahren kam sie aus Mexiko City über die Grenze nach Amerika. Ihr Vater und ihre Mutter hatten ihr ganzes Leben dafür gespart, das ihre Tochter einmal ein besseres Leben haben würde, als sie selbst. Das ist ein Traum für viele, die unter der zunehmenden Verrohung der Metropole litten.

Emilie wechselte schnell wieder das Thema. „Komm, lass uns nach unten gehen. Ich kann die Pause sehr gut gebrauchen, sonst bekomme ich heute Nacht noch Alpträume und Wahnvorstellungen. Ich stecke hier gerade in den Ausarbeitungen zum Kult um AH PUCH. Keine besonders schöne Gute Nacht Geschichte.“ Sie lachten beide, aber es war mit einem gewissen Unbehagen belegt. Dann tippte Emilia mit der Fingerspitze auf die Skizze einer Darstellung, die als Gravur an einer Tempelmauer entdeckt wurde.                „Mit seiner Legende würde ich mich nachts auch nicht beschäftigen wollen. Er hat den Menschen die Haut abgezogen, um sie als Kleidung über sein verfallendes Skelett zu tragen. Ihre Augen trug er als Ketten um seinen Hals, Hand- und Fußgelenken.“ Rose Blick war weit und ihre Stimme zitterte leicht. „Danke, Rose. Genau das habe ich jetzt gebraucht.“

Emilia kniff die Augen zusammen und versuchte dieses Bild aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie hatte bereits genug Schwierigkeiten, die Visionen ihrer verstorbenen Kollegen und Kolleginnen zu verdrängen, die ihr Leben für diese Entdeckung lassen mussten. Die Details der Entdeckung und der Horror, dem das Team ausgesetzt gewesen war, hatte sie Rose bisher verschwiegen.

Auf dem Weg zur Cafeteria kamen sie an der europäischen Renaissance vorbei, machten einen Schlenker durch das mittelalterliche Spanien und passierten die Ausstellung der Modern Art. Emilia unterbreitete Rose währenddessen Möglichkeiten zur Studienfinanzieren und Strukturierung, bis sie die große Theke der Cafeteria erreichten, wo Rose ihnen hinter dem Tresen einen Cappuccino zubereitete.

Als Rose in Kalifornien ankam, hatte ihr „Vermittler“ ihr einen Job als Kellnerin in einem italienischen Restaurant verschafft. Es waren siebzig, achtzig Stunden Wochen, aber sie war trotzdem sehr dankbar für die Arbeit. Sie wusste von den vielen jungen Frauen, die über die Grenze gebracht und in eine ganz andere Art von Arbeit vermittelt wurden.

„Rose, ich liebe deinen Cappuccino.“ Emilia schloss ihre Augen, während sie die fein cremige Arabica-Mischung unter dem Milchschaumhäubchen hervorschlürfte. Sie saß am Tresen und wartet darauf, dass Rose sich mit ihrer eigenen Tasse zu ihr gesellte. Beide saßen zuerst in Gedanken und schwiegen. Dann erzählte Rose, ohne den Blick von ihrem Kaffee zu nehmen: „1519 erreichte Hernán Cortéz mit seiner Flotte die Halbinsel Yucatán. Er und seine Konquistadoren hatten zuvor nichts Vergleichbares gesehen. Riesige Tempelkomplexe mit einer fünfundsechzig Meter hohen Pyramide, Palastanlagen und hunderte von Terrassen mit reichen Äckern und öffentlichen Plätzen. Sie standen vor einer 3000 Jahre alten Zivilisation. Dreißig Jahre später war sie ausgelöscht. Die Maya wurden von den Soldaten nicht nur abgeschlachtet. Pocken, Masern, Bandwürmer, Gelbfieber… all die epidemischen Krankheiten aus Europa, die die Soldaten mitbrachten, als sie ihre blutige Assimilation im Namen Gottes und der spanischen Krone begannen.“

Emilia nippte bedächtig an ihrem Cappuccino, während sich der traurige Untergang einer der letzten von Europäern unberührten Zivilisationen vor ihrem inneren Auge abspielte.

„Eine ganze Kultur wurde ausgerottet. Ihre Bücher und Codizes landeten als Teufelswerk auf dem Scheiterhaufen und sie wurden als Ketzer beschuldigt und sie aufgrund ihrer teils blutigen Rituale als eine niedere, barbarische Rasse betrachtet. Die Inquisition vergaß zu dieser Zeit selbst ihre eigenen kleinen Scheiterhaufen, ganz zu schweigen von den Kreuzzügen der Templer.“

Sie stibitzte einen abgepackten Keks von der Ladentheke, öffnete die Verpackung und stupste ihn in den Milchschaum. „So viel ist von der Kultur verloren gegangen. Aber die Inschriften der goldenen Tafel bergen noch unverhoffte Geheimnisse in sich. Wir müssen sie unbedingt entschlüsseln und die Fundstellen weiter erforschen.“

„Du hast mir von der Tafel erzählt, aber gesehen habe ich sie noch nicht. Ist sie bereits in der Ausstellung?“, fragte Rose und nahm sich selbst auch ein Stückchen des feinen italienischen Spritzgebäcks.

„Ja, sie wurde heute aus unserem Archiv geholt und in die Vitrine gestellt. Die Tafel direkt vor der Statue positioniert und links und rechts daneben haben wir Repliken der Tempelhalle aufgebaut. Komm, ich zeig sie dir!“, sagte Emilia und ihre Stimmung schwenkte ruckartig um. Sie war aufgeregt wie ein kleines Mädchen an ihrem Geburtstag.

Rose zögerte noch. „Ich weiß nicht. Können wir das nicht lieber ein anderes Mal machen? Vielleicht, wenn es nicht mitten in der Nacht ist und wir allein sind?“, fragte sie.

Emilia lachte. „Jetzt stell dich nicht so an. Ich weiß genau, wie gern du sie sehen würdest. Hab keine Angst. Außerdem ist Bob bestimmt in der Halle und gibt seinen Hüftschwung zum Besten. Spätestens dann hätte selbst der Pinhead aus Hellraser Probleme die Nacht zum Alptraum werden zu lassen.“

„Wer?“

„Schon gut.“ Emilia hakte sich bei Rose ein und zerrte sie durch die Tür.

„Zwei so hübsche Ladies sollten zu so später Stunde nicht alleine durch die dunklen Korridore schleichen. Denkt an die vielen Flüche, Monster und Mumien und Werwölfe, uhahhh…“

Ronald hatte sich von hinten an Emilia und Rose herangeschlichen. Emilia hasste dieses schleimige Subjekt, aber seine Familie gehört zu den angesehensten, langjährigsten und spendabelsten Förderern verschiedener Ausstellungen und somit genoss er gewisse Privilegien. Emilia hatte ein gesundes Selbstwertgefühl und einen gewissen Stolz, der sie davon abhielt, sich wie andere darauf hinabzulassen sich mit Öl einzuschmieren, um ihm so tief wie möglich in den Hintern zu kriechen. Sie täuschte ein freundliches Lächeln vor und blieb distanziert.

„Ronald, was machen Sie denn hier? Ich habe Sie erst morgen zur Eröffnung erwartet.“ „Ich bin einfach unglaublich neugierig und wollte mir die Prachtexemplare noch heute Abend ansehen.“ Ronald zögerte und Emilia befürchtete, dass das nicht der einzige Grund für sein Kommen sein konnte. „Außerdem muss ich Ihnen leider mitteilen, dass die Ausstellung schon sehr bald schließen wird, da ein Privatsammler ein nicht auszuschlagendes Sümmchen geboten hat. Es gibt neue Verhandlungen und einen Vertrag mit Investoren aus Übersee. Ich wollte nur so fair sein und es ihnen persönlich mitteilen.“ Er grinste Raubtierartig.

Emilia war sprachlos. Für sie war es ein Schlag ins Gesicht. Ihr Blut kochte vor Wut über diese herablassende Dreistigkeit dieses verwöhnten Wiesels. Sie konnte nicht glauben, was sie dort gerade gehört hatte. Sie hatten einen Vertrag für die Ausstellung über ein volles Jahr abgeschlossen. Das konnte er nicht tun, auch wenn ihm das Museum faktisch gehörte.

„Und das sagen sie mit jetzt? Mitten in der Nacht?!“, fragte Emilia provokant. „Ronald, ich möchte Sie sofort in meinem Büro sprechen.“ Sie wandte sich an Rose. „Es tut mir leid, aber ich muss mit Mr. McCoy unter vier Augen sprechen.“

Rose nickte verständnisvoll, strafte Roland mit eiskaltem Blick und machte sich auf den Weg zurück ins Café. Roland blickte ihr amüsiert nach und seine Augen schweiften genüsslich über ihre Rundungen.

„Heute Abend habe ich nicht mehr die geringste Lust über Geschäftliches zu reden.“ Er trat dichter an Emilia heran und ihre Mundwinkel kräuselten sich vor Ekel.                „Aber wir können morgen nach der Eröffnung bei einem gemeinsamen Dinner in etwas privateren Gefilden die Einzelheiten durchgehen. Für meine Anwälte ist der Fall zwar schon klar und nach ihnen haben Sie mir nichts entgegenzuhalten, aber vielleicht fällt Ihnen doch noch ein überzeugendes Argument ein und können mich umstimmen, was meinen Sie?“

Emilia atmete tief durch, schloss kurz die Augen und zwang sich ein Lächeln ab. Sie öffnete die Augen wieder und trat langsam, entschlossen und mit stoischer Ruhe an Ronald heran, der sich lässig mit einem Arm an einer Replik des Heiligen Augustinus stützte.

„Mein lieber Ronald, du kleines Bübchen nuckelst doch noch an der Zitze deiner Mama und die einzigen Frauen, die sich mit einem Schleimbrocken wie dich abgeben, sind die bezahlten Callgirls deines Daddys. Und wenn du nicht augenblicklich deinen Arm vom heiligen Augustinus nimmst, breche ich ihn dir. Und jetzt verschwinde!“

Ronald war baff. Ihm fiel die Kinnlade hinunter und er fühlte sich wie ein kleiner gemaßregelter Junge. Er nahm die Hand von der Statue und er wusste, dass Emilia es ernst meinte. Er schluckte schwer, schnaubte herablassend und machte auf dem Absatz kehrt. In diesem Moment trat Rose wieder an Emilias Seite, die sich noch nicht zu weit von den beiden entfernt hatte. Sie verschränkte die Arme und ihr Blick gab ein klares Statement ab.

„Du kleines Miststück bist heute zum letzten Mal hier. Dafür werde ich sorgen. Du und die Schlampe an deiner Seite. Ihr werdet so schnell keinen Job mehr bekommen. Das garantiere ich euch.“

Roland presste sich durch die beiden hindurch und schubste sie zur Seite. Bevor er um die Ecke des Korridors bog drehte er sich nochmal um.

„Und seid schön vorsichtig. Die Straßen von New York können für solche Schlampen wie euch gefährlich werden. Da können ganz schnell ein paar üble Typen auftauchen, die sich auf ein bisschen Spaß freuen!“

Dann verschwand er hinter der nächsten Ecke. Emilia ließ einige Sekunden vergehen, bis sie sicher war, dass er es nicht hören würde. Doch dann katapultierte sie ihren Zorn mit voller Kraft aus ihrer Kehle. Der Schrei verhallte im Museum, als Emilia sich mit dem Rücken gegen die Wand stützte, das Gesicht in ihren Händen vergrub und weinend auf den Boden sackte. Rose kniete sich neben sie und versuchte vergeblich sie zu trösten.

„Es tut mir leid, Rose. Ich muss mich jetzt sofort um diese Angelegenheit kümmern und mich an den Hörer klemmen. Wir holen das nach, einverstanden?“

Rose hielt Emilias Hand und half ihr wieder auf die Beine. Emilia wischte sich Tränen aus dem Gesicht und gewann ihre gewohnte professionelle Haltung zurück. Sie war wieder kampfbereit.

„Natürlich, sieh zu, dass du dieses Schwein drankriegst.“, sagte Rose und umarmte sie fest. „Aber ich warte unten auf dich. Mir gefällt nicht, was er zuletzt gesagt hat. Lass uns zusammen nach Hause gehen. Vielleicht ist Bob auch noch da und er kann und dann begleiten.“ Emilia schüttelte den Kopf und winkte ab.

„Lass nur gut sein. Ronald ist ein kleiner verzogener Junge. Da steckt nichts hinter. Aber ich muss trotzdem die Verträge checken und bestimmt meinen Anwalt aus dem Bett klingeln. Geh du ruhig schon nach Hause. Hier. Nimm das Geld für ein Taxi. Gib mir den Rest einfach morgen wieder. Ich werde nachher auch eins nehmen und alles ist gut. Ronald wird sowieso nach Hause fahren und wahrscheinlich seinem Daddy erzählen, was für miese, gemeine Schlampen wir doch sind.“

Sie lachten beide bei der Vorstellung den Mann im Armani-Anzug weinend vor seinen Eltern sitzen zu sehen.

„Wir sehen uns morgen.“ Aber Rose blieb hartnäckig. „Ich warte unten. Klingel auf meinem Handy durch, okay?!“

Emilia gab nach und willigte ein. Dann ging sie zurück in ihr Büro. Rose blickte ihr nach. Sie bewunderte Emilia so sehr und sie war unglaublich wütend über das, was geschehen war. Sie fühlte sich an die Zeit in ihrer alten Heimatstadt zurückerinnert, wo ihre Welt von Männern dominiert wurde, die in der Pubertät stecken geblieben waren und Frauen behandelten, als wären sie seelenloses Spielzeug und nur für den einen Zweck zu gebrauchen. Aber wehe dem, dem eine unflätige Bemerkung über ihre Schwerstern oder Mütter rausrutschte. Dann gab es sofort einen blutigen Bandenkrieg.

Sie hatte gehofft diesem Irrsinn in New York entgehen zu können. An diesem Abend musste sie leider feststellen, dass auch hier die Gesellschaft anscheinend durch alle Schichten hindurch von diesen „kleinen Jungen“ durchdrungen war und sie es sogar bis zum Präsident der Vereinigten Staaten schaffen konnten.

Rose wartete auf Emilia und vertrieb sich die Zeit in der Bibliothek, in der sie noch bekannte Gesichter traf, teils Studenten, die sich dort die Nacht um die Ohren schlugen. Um sich die Beine zu vertreten streifte sie ein wenig durch die gedimmten Hallen des Museums, nickte freundlich dem Wachpersonal zu und grüßte ihre Kollegen vom Reinigungsdienst, die ihre Schicht bald beendet hatten. Sie liebte diese Zeit im Museum, wenn die Stille den Monumenten wieder ihre alte Würde zuteil lassen konnte.                Zwei Stunden waren vergangen. Emilia hatte ihr vor ein paar Minuten eine SMS geschickt, dass es noch etwas dauern würde. Abermals bat sie Rose darum, nach Hause zu gehen, aber Rose bestand weiterhin darauf zu bleiben, zumal sie immer noch sah, wie Ronalds Lamborghini vor dem Museum die beiden Behindertenparkplätze in Anspruch nahm. Das bedeutet er musste hier noch irgendwo herumschleichen. Zwar hatte er auch ein Büro in den oberen Etagen, aber Rose Instinkt riet ihr bei diesem Kerl zur Vorsicht. Deswegen blieb sie in Alarmbereitschaft.

Rose durchwanderte den Westflügel und fand sich auf einmal vor dem Eingang der neuen Ausstellung wieder, den sie eigentlich bewusst umgehen wollte. Sie stand plötzlich vor dem Portal und konnte sich nicht im Geringsten beantworten, wie sie dort hingelangt war: Der verschollene Kult des Ah Puch. Der Eingang war dem Portal des Tempels nachgebildet und Rose blickte in seine dunkle Öffnung. Auch wenn es sie an eine Attraktion eines Vergnügungsparks erinnerte, lief ihr dennoch ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Eltern waren sehr gläubige Menschen. Sie säuberten jedes Jahr rituell die Gebeine ihrer Großeltern auf dem Mausoleum in Mérida auf Yucatán. Für sie war es Tradition und hielten sich selbst für katholische Christen. Sie wussten nicht, dass sie mit ihrem Totenglauben eine uralte Tradition ihrer Mayavorfahren pflegten. Rose schmunzelte bei dem Gedanken an den Gottesdiensten, den Prozessionen mit den vielen Liedern und den kleinen Ritualen, die ihre Familie daheim in Mexiko so konsequent durchgeführt hatten, ohne zu wissen, was sie dort überhaupt genau taten. Sie besaßen einfach unerschütterliches Vertrauen und äußerste Hingabe in ihre Tradition und in Gott. Mit zunehmenden Kontakt zur Außenwelt während ihrer Teenager Zeit wuchs Rose Skepsis gegenüber ihren Glauben.

Aber jetzt steht sie hier vor der Ausstellung in einem Museum und hadert hineinzugehen. Ein Funken Ehrfurcht musste sie sich selbst also doch bewahrt haben. Ein Funke, der sich mit der Beschäftigung ihrer Ahnen hier im Museum und in den Gesprächen mit Emilia vielleicht wieder neu entzündet hatte. Sie schüttelte den Kopf und kam sich unglaublich lächerlich vor. Sie atmete tief durch und betrat die steinerne Pforte zur Ausstellung. Rose passierte die ersten Relikte aus der Zeit von vor 2000 Jahren. Es waren Scherben von Keramikfunden in Yucatan. Die ersten Siedlungen entstanden zwischen 1100 und 1200 vor unserer Zeitrechnung. Rose bestaunte die Miniaturbauten der Siedlungen, die den archäologischen Fundstellen nachempfunden wurden. Rose ging weiter und betrachtete hinter dem Sicherheitsglas eine nachgestellte Alltagsszene: Eine Familie – Vater, Mutter, Kind – bei der Zubereitung von Lebensmitteln in einer kleinen, zylinderartigen Lehmhütte mit Strohdach. Die Gesichter waren von tiefem Ernst gezeichnet. Ihre Kleider waren aus einfachem Leinen und sie trugen Arm- und Halsketten aus bunten Steinen als Schmuck. Rose dachte daran, wie schwer das Leben gewesen sein musste – ohne medizinische Versorgung, ohne fließendes Wasser, ohne Zahnarzt und so vielen anderen Dingen, die für die Menschen von heute so alltäglich waren, dass sie gar nicht mehr als zivilisatorisches Luxusgut wahrgenommen wurden.

Rose ging in kleinen Schritten weiter in die Halle hinein, in deren Zentrum eine vier Meter hohe Stele emporragte, auf der Piktogramme eingemeißelt waren. Vor ihr der Opferaltar von Ah Puch. Vor diesem blieb Rose stehen und sie hatte ein Gefühl, als würden hunderte kleiner Spinnen ihren Rücken hinunterlaufen. Dieser Altar-Stele-Komplex bildete das Zentrum der verschollenen Mayakultur. Sie betrachtete die rätselhaften Inschriften und Piktogramme auf der goldenen Tafel, die auf der Stele angebracht war. Der Text im Schaukasten hielte nicht viele Informationen bereit. Bis jetzt spekulierte man, ob dort die einzelnen Herrscher, Priester und Könige eingemeißelt waren, oder ob es sich um eine bestimmte Beschwörungs- oder Anrufungsformel handelte.

Auf dem Altar wurden Menschen enthauptet und ihnen das noch pochende Herz durch den Bauch herausgeschnitten. Rose schauderte bei diesem Gedanken und sie fühlte sich wieder zwischen Scham und Stolz hin und hergerissen. Stolz war sie, eine Maya-Indianerin zu sein und als direkte Nachfahrin auf eine uralte Tradition zurückzublicken, die sich so eigenständig vom Rest der Welt entwickelt hatte und bis vor wenigen hundert Jahren noch völlig unbemerkt blieb. Doch wie jede Tradition und Geschichte eines Volks war auch die ihre eine blutige und das nicht zu knapp. Kämpfe, Kriege und Opfer gehörten auch bei den Maya mit zum alltäglichen Leben.

Ein Funkeln in Rose Augenwinkel stieß sie aus den Gedanken und ihr Blick wanderte zur gegenüberliegenden Wand. Dort war sie, die groteske Statue des Ah Puch. Der Totengott und, wie sich vor Kurzem erst herausstellte, der eigentliche Herrscher der Völker Mesoamerikas. Kein Wunder, dachte sich Rose. Bei seiner Story würden die Menschen alles tun, um nicht in seinen Klauen zu landen. Als Herr der Unterwelt entkam ihm niemand. Kein Herrscher, König oder Priester. Alle hatte sich vor ihm zu behaupten oder in unvorstellbaren Qualen in den Kreisen der Hölle zu schmoren.

Die goldene Tafel, die zusammen mit der Staute des Ah Puch in der Grabungsstätte gefunden wurde, lag in einer Vitrine aus Panzerglas vor dem Altar aufgebahrt. Es war seltsam. Auch wenn die Tafel von dem Dimmer der Nachtbeleuchtung leicht angestrahlt wurde, schien von ihr selbst ein Strahlen auszugehen, so, als würde sie glühen. Irgendetwas in Rose sagte ihr, sie solle sich von ihr fernhalten. All ihre Sinne schrien warnend, dass dort etwas nicht stimmte. Aber Rose bewegte sich mit leisen, kleinen Schritten immer näher zur Tafel hin. Sie wurde von ihr angezogen. Eine Aura ging von ihr aus, deren Strahlen sich ausbreiteten, je näher Rose der Vitrine kam. Rose wollte das nicht. Sie wollte sich umdrehen und weggehen, aber eine unsichtbare Kraft zog sie immer näher zur Tafel hin. Rose schluckte schwer, ihr Herz raste und ihr ganzer Körper zitterte. Am liebsten hätte sie um Hilfe geschrien, aber ihre Kehle war wie abgeschnürt und sie brachte kein Ton heraus. Jetzt stand sie direkt vor der Tafel und blickte auf ihre schimmernden Piktogramme, das Zeichensystem, das noch nicht entschlüsselt werden konnte.

Dann geschah etwas Unmögliches. Die Tafel wurde größer. Oder wurde Rose kleiner? Der Raum um sie herum wurde immer dunkler und fiel in einen tiefen Schatten. Die Inschriften fingen an sich zu bewegen. Über Rose tat sich ein Himmel auf – blutrot und ein dunkler Mond strahlte hinter der Spitze einer Pyramide. Rose war nicht mehr im Museum. Sie drehte sich um und konnte und wollte nicht glauben, was sie dort sah. Tausende von Menschen knieten auf einem weiten Platz vor der Pyramide. Es waren Maya und sie wiederholten immer wieder einen Satz, ein Gebet oder eine Anrufung. Es war eine fremde Sprache, aber Rose verstand jedes einzelne Wort: AH PUCH, HERR DER UNTERWELT, HERRSCHER DES TOTENREICHS, ERHÖRE UNS UND SCHENKE UNS DEINE STÄRKE.

Rose blickte an sich herab. Sie war nicht mehr in ihrem Körper. Sie war im Körper eines Mannes, der nackt, bis auf einen Lendenschurz bekleidet, vor einem Altar stand. Es war der Blutaltar des AH PUCH. Und auch die Stele ragte hinter ihm empor. Rose bemerkte, dass sie eine Maske auf dem Gesicht trug und spürte, wie ihre rechte Faust einen Dolch umschloss. Dann blickte sie hinab auf den Altar. Ein Mann war mit Seilen an ihn gefesselt. Sein leerer Blick war gen Himmel gerichtet. Seine Lippen bewegten sich wie zum leisen Gebet. Der Chor der Menschen wurde lauter. Die Ekstase der Menschenmenge schoss wie reine Energie durch Rose Venen. Sie hob den Dolch mit beiden Händen empor zum blutigen Himmel. Sie rief laut in der fremden Sprache: BLUT FÜR LEBEN! LEBEN FÜR MACHT! Dann rammte Rose den Dolch tief in den Bauch des Mannes. Sie schnitt ihn längs auf und griff mit ihrer Hand hinein. Sie tastete sich an den Eingeweiden entlang bis sie ihr Ziel fest mit der Faust umschließen konnte. Sie riss das pochende Herz heraus und hielt es triumphierend in die Höhe. Die Menschen erhoben sich und jubelten ihr zu. Rose wurde von einer Energie durchströmt, deren Macht sie zum Herrscher des ganzen Universums erhob. Sie war AH PUCH, Herr der Unterwelt, Herrscher über Leben und Tod – ein GOTT. Ronald war auf dem Weg in Emilias Büro und passierte dabei den Eingang zur Ausstellung. Ein kurzes, helles Aufblitzen weckte seine Aufmerksamkeit und von der Neugier getrieben ging er der Sache nach. Er fand Rose mit dem Rücken zu ihm stehend vor der gläsernen Vitrine, die die goldene Tafel mit der geheimnisvollen Inschrift beinhaltet.

Sein Blick glitt abermals an ihrer Silhouette entlang und in seinen Gedanken spielten sich die unwahrscheinlichsten Szenen ab. Ronald räusperte sich laut, um auf sich aufmerksam zu machen. Rose rührte sich aber keinen Zentimeter. Eine junge, gutaussehende Mexikanerin, die noch nicht lange in den Staaten war, könnte eine leichte Beute für ihn werden. Diese Frauen tun für ein paar Pesos so einiges, wenn nicht sogar alles.

„Guten Abend, junge Dame. So ganz allein in dieser dunklen Halle? Ich war gerade auf dem Weg zu ihrer Freundin, aber auf einmal hat es mich in diese Halle hineingezogen, wie durch Magie. Und da fand ich sie.“

Keine Antwort. Rose blieb stumm und rührte sich auch weiterhin keinen Zentimeter. Ronald wurde ungeduldig und war ungehalten darüber, dass sie nicht gleich auf seinen unwiderstehlichen Charme ansprang. Er suchte nach Worten und sein Blick schweifte dabei zum Podest, auf dem er eigentlich die Statue des AH PUCH vermutete, aber sie war nicht dort.

„Ich dachte die Ausstellungsstücke seien alle komplett aufgestellt worden. Wo ist denn die Statue, dieses hässliche Stück? Hat Emilie sie noch nicht aus dem Tresorraum raufbringen lassen? Weißt du etwas darüber?“

Keine Antwort. Keine Reaktion. Rose blieb reglos und stumm. Allmählich platzte Roland der Kragen. Wütend trat er hinüber zu Rose und drehte sie mit Gewalt zu sich um, damit sie ihn endlich ansah und aufhörte ihn zu ignorieren. Was dann in wenigen Sekunden geschah, bewegte sich weit außerhalb seines Horizonts und erschlug ihn mit der Gewalt eines feuerspeienden Vulkans. Er war gefangen. Eingenommen von dem Grauen, dem er nun ins direkt ins Auge blickte.

Rose Augen waren zwei lodernde Sphären, die ihn in einen unentrinnbaren Bann schlugen. Ihre Haut löste sich wie Asche von ihrem Fleisch, bis nur noch blutige Knochen hervorragten. Ihre Zähne verlängerten sich und liefen spitz zu, wie die eines Reptils. Mit einem Mal entzündete sich ihre Kleidung und ihre Kleidung fiel als kalte Asche von ihrem Körper.

Doch es war nicht mehr der Körper einer jungen Frau. Es war ein abscheuliches, hybrides Wesen, das aus den verrotteten Leichenteilen von Echsen und Menschen zusammengesetzt wurde. Es war AH PUCH. Sie war der Gott der Toten. Und er war nach all den Jahrhunderten hungriger als je zuvor.
Emilia hatte das Gespräch mit ihrem Anwalt gerade beendet und scrollte an ihrem Laptop nochmal zurück zum Anfang des Vertrags, um ihn ein drittes Mal durchzugehen. Ronald konnte kein Schlupfloch gefunden haben, das war unmöglich. Aber Emilia wusste, was alles mit genügend Schmiergeld möglich war und sie wollte den Anwälten dieses verzogenen Schnösels auf keinen Fall einen Angriffspunkt liefern. Sie würde die nächsten vierundzwanzig Stunden keinen Schlaf finden und sie musste auf der Ausstellung am nächsten Tag einhundert Prozent geben, denn es werden potentielle zukünftige Geldgeber auf ihre Vorstellung warten, welche, die es vielleicht sogar ernst meinten mit dem Erhalt der Kultur und Geschichte und darin nicht das schnelle Geld sehen oder eine Möglichkeit ihr Prestige für die Öffentlichkeit aufzupeppen. So lange es dem Museum zu Gute kam, sollte es ihr egal sein.

Rose. In der ganzen Aufregung hatte sie sie ganz vergessen. Emilia entschied, alles Weitere von ihrem Appartement aus zu managen. Sie packte ihre Sachen zusammen und rief Rose auf ihrem Handy an. Sie würden sich zusammen ein Taxi nehmen. Dann brauchen sie sich keine Sorgen darum machen, dass Ronald nicht nochmal auftaucht. Sie glaubte zwar nicht, dass er ausfallend werden würde, aber sicher ist sicher.

Rose hatte noch immer nicht den Hörer abgenommen. Seltsam. Emilia schickte ihr eine SMS. Aber es kam keine Antwort zurück. Das war seltsam, denn Rose hatte bislang immer sofort geantwortet und langsam machte sich Emilia sorgen. Sie nahm ihre Tasche und verließ ihr Büro.

Sie ging an der Cafeteria vorbei, aber auch dort war sie nicht. Emilia traf den tanzenden Bob, doch auch er hatte sie nicht gesehen. Sie durchforstete die einzelnen Abteilungen und versuchte Rose währenddessen immer wieder übers Handy zu erreichen. Vergeblich.

Dann traf Emilia auf Carl, einer der älteren Wachleute, der vermutlich schon bei der Erbauung des MET dabei gewesen war. Carl grüßte sie herzlich und gab Emilia den Hinweis, dass er Rose das letzte Mal gesehen hatte, als sie vor der neuen Ausstellung stand. Carl hatte bemerkt, dass haderte die neue Ausstellung zu betreten. Er wollte ihr einen albernen, kleinen Spruch von der anderen Seite der Halle hinüberrufen, aber dann war sie doch noch in der Halle verschwunden und Carl sparte es sich.                Natürlich. Rose hatte gesagt, dass sie Angst vor der Ausstellung hatte und dort auf keinen Fall alleine hineingehen wollte. Deswegen hatte Emilia dort noch nicht nachgesehen. Rose Neugier musste sie doch bezwungen haben und sie würde jetzt sicherlich in der Ausstellung sein. Also machte sich Emilia auf den Weg dorthin. „Rose? Bist du hier? Rose?“

Emilias Stimme verhallte in der Dunkelheit der Ausstellung des AH PUCH. Es war eigenartig. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. In ihrer eigenen Ausstellung, die sie an diesem Nachmittag noch selbst arrangiert hatte. Sie war ein höchst rationaler Mensch und Atheistin. Sie glaubte weder an Gott, noch an Götter, Dämonen und böse Geister. Schon als Kind war sie erstaunlich immun gegen die Gruselgeschichten ihres großen Bruders, der immer wieder vergeblich versuchte ihr damit vor dem Schlafengehen Angst einzujagen.

Hier, in dieser Halle, bekam sie das erste Mal ein Gefühl von irrationaler Unsicherheit, ja gar von Angst. Zum ersten Mal spürte sie eine Kälte, die sich von innen in ihr ausbreitete. So ein Blödsinn! Rose musste sie einfach mit ihrem esoterischen Gehabe angesteckt haben. Das Mädchen sollte die Geschichte ihrer Ahnen endlich ordentlich studieren, dann verschwindet der Rest eines kindischen Aberglaubens ganz schnell wie von selbst.

Emilie rief weiter nach Rose, aber schritt dennoch mit höchster Wachsamkeit durch die Korridore der Ausstellung. Ihr Herz schlug ihr bis zur Kehle hinauf. Eine Abbiegung weiter und Emilie würde ins Zentrum der Ausstellung gelangen, zum Altar des AH PUCH, zur Stele mit seiner Statue und dem goldenen Buch.

Doch noch ehe sie ihren Blick um die Ecke des Korridors schweifen ließ, drangen ungewöhnlich Geräusche aus der Dunkelheit. Ein eigenartiges Schmatzen, das sie an die Löwen erinnerte, denen sie im Zoo beim Mittagessen zusehen konnte und Sehnen und Bänder zerrissen und Fleisch von ihren mächtigen Zähnen zerkaut wurde. Emilia war von dem starken Wunsch durchdrungen, die dunklen Korridore hinter sich zu lassen und die Ausstellung so schnell wie nur möglich zu verlassen. Aber sie konnte nicht. Sie musste herausfinden, wo diese Geräusche herkamen. Und aus irgendeinem Grund wusste sie, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

„Nein.“ Ein Flüstern. Ein Hauch. Zu mehr war sie nicht fähig. Emilias Körper war zu Stein erstarrt. Weder konnte sie atmen, noch schien ihr Herz zu schlagen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auf das gerichtet, was ihre Vorstellungskraft überstieg. Dieses grauenhafte Bild musste eine Halluzination sein, es konnte nicht wirklich sein, es durfte nicht wirklich sein. Das war unmöglich.

Die Überreste von Ronald lagen auf dem Altar. Die roten, mit Blut vollgesogen Fetzen und die Designerschuhe gaben Rose den einzigen Hinweis auf seine Identität. Der Rest seines Körpers lag auf dem Altar des AH Puch. Sein Schädel zertrümmert, sein Brustkorb aufgerissen. Emilia sah die dunkelgraue Hirnmasse langsam am Rand des Altars hinunterlaufen. Organe und Eingeweide lagen um ihn herum verteilt. Ein herausgerissenes Auge starrte sie vom Boden nur wenige Schritte von ihr entfernt aus an.

Was war hier nur geschehen. Welches Monster war dafür verantwortlich? Jetzt bemerkte Emilia, dass die Statue des AH PUCH fehlte, so wie die goldene Tafel. War es ein Überfall? Ein Diebstahl mit einer perversen Botschaft einer extremistischen Gruppierung? Nein, das konnte kein Mensch getan haben.

Emilias Unterlippe zitterte, gefolgt vom Rest ihres Körpers. In ihren Augen sammelten sich Tränen. Sie musste aufwachen. Einfach nur aufwachen. Sie betete zu Gott, irgendeinem Gott, damit er sie aus diesem Alptraum endlich aufweckte.

„ER WIRD DICH NICHT HÖREN. NUR ICH HÖRE DICH, EMILIA AMBROSE!“ Hinter der Stele trat er hervor. Eine überragende und schreckliche Gestalt. Der lebende Alptraum des AH PUCH. Ein blutiges Monster, erschaffen in den Höllen der Unterwelt. Seit Jahrtausenden genährt von den Qualen der Seelen seiner Opfer. Ausgestattet mit einer Macht, die das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt. AH PUCH – Herr des Todes.

„KOMM ZU MIR!“ Emilias Körper gehorchte. Ihr Geist war nur noch ein willenloser Gefangener und Schritt für Schritt näherte sie sich dem Monster aus der Dunkelheit. Sie wollte sterben. Jetzt gleich. Damit ihr das erspart bliebe, was auch immer vor ihr lag.

Ihr Blick richtete sich auf die Klaue des Wesens, das etwas fest umschloss. Es war ein Herz. Es war Ronalds Herz. Das Wesen richtete sich nun zu seiner vollen Größe auf. Eine gigantische Bestie, die ihre Klauen mit rasiermesserscharfen Krallen nun langsam zu seinem Mund führte und Ronalds Herz verschlang.

Emilia blickte zu dem Wesen hinauf, dem Dämon in dessen zerstückelten Gesicht sich langsam ein Lächeln abzeichnete.

„Bitte nicht.“, hauchte Emilia mit letzter Kraft. Der Dämon hob abermals seine schwarze Pranke aus verfaulendem Fleisch und strich Emilia fast zärtlich mit der Rückseite einer seiner Krallen über die Wange. Dann spürte Emilia, wie die Kreatur ihr mit der anderen etwas in die ihre Arme legte, das sie wie hypnotisiert entgegennahm. Es war die goldene Tafel. Sie schimmerte und ihre Lettern waren lebendig. Sie bewegten sich zu dem Rhythmus des pulsierenden Lichts.

Nun fasste der Dämon Emilia an beide Schultern und blickte ihr tief mit seinen Augen an, in denen das Feuer der Höllen brannte. Emilia spürte, wie ihr Geist mit dem seinen verschmolz. Sie spürte die Qualen von Abermillionen Seelen. Aber sie wusste auch, was der Dämon wollte, was er von ihr erwartete und letztlich, was sie zu tun hatte. Er war ihr Herr und Gebieter und sie musste ihm gehorchen. Ihr Leben gehörte nun ihm.

„Ja, ich werde es tun.“, flüsterte Emilia mit tiefster Entschlossenheit. Sie hatte keine Angst mehr. Sie würde nie wieder Angst haben müssen. Nun war er bei ihr und zusammen würden sie sein Volk wieder vereinen und über die Welt herrschen. „Meine sehr verehrten Damen und Herren. Ich bedanke mich für Ihr zahlreiches Erscheinen aus so vielen verschiedenen Städten und Ländern, um den heutigen Abend mit uns zusammen zu feiern.“

Emilia war ganz ruhig. Die Haupthalle des MET war gefüllt mit Männern in Smokings und Frauen in Abendkleidern. Die Augen vieler Professoren und Investoren waren auf sie gerichtet. Nach dem schrecklichen Verbrechen vor vier Wochen, war die Eröffnung der Ausstellung verschoben worden. Die Mörder Ronald McCoys waren immer noch auf freiem Fuß. Die Polizei geht von einem Statement einer kulturellen Vereinigung aus, die sich für die Ausbeutung ihres heimischen Kulturguts rächen wollten. Das die Statue und das goldene Buch allerdings zurückgelassen wurden gab ihnen ein Rätsel auf. Die Überwachungskameras in diesem Flügel hatte an jenem Abend nichts aufgenommen. Vermutlich hatten sich die Eindringlinge in das Sicherheitssystem gehackt.

„Ich darf Ihnen nun mit Stolz den Höhepunkt unserer Sammlung präsentieren: AH PUCH.“ In diesem Augenblick fiel ein roter, samtener Vorhang vom Altar, der Stele mitsamt der Statue und der goldenen Tafel. Das Publikum applaudierte und Champagnergläser erhoben sich.

„Ich danke Ihnen.“ Emilia trat nun direkt vor den Altar und ein kaltes Lächeln legte sich über ihr Gesicht.

„Wie Sie sicherlich wissen, waren die Inschriften der goldenen Tafel des AH PUCH bis vor wenigen Tagen noch ein ungelöstes Rätsel. Aber heute Abend, meine verehrten Damen und Herren, habe ich die Ehre das Geheimnis exklusiv für Sie zu lüften.“                Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge und fragende Blicke tauschten sich aus. Niemand war auf das gefasst gewesen. Selbst der Kurator des Museums musste hilflos mit den Schultern zucken.

„Aber dafür bitte ich meine geschätzte Freundin Rose hier zu mir nach vorn, die, wie niemand zuvor, den Geist ihrer Ahnen zu verkörpern vermag.“

Emilia klatschte in die Hände und das verunsicherte Publikum stieg zögernd mit ein. Durch die Menge glitt die Gestalt einer jungen Frau in einem seidenen, weißen Kleid, deren kastanienbraunes, lockiges Haar spielerisch auf ihre Schultern fiel. Mit einem ruhigen, selbstbewussten und erhabenen Lächeln nickte sie dem einen und anderen Besucher zu, während die anderen Gäste ihr Platz machten.

Langsam schritt sie die Empore hinauf und positionierte sich neben der goldenen Tafel, die sie zärtliche mit ihren Fingern streichelte. Dann wandte sie sich den Menschen aus aller Welt zu, die das Ereignis über die Kameras des CNN verfolgten. Rose lächelte. AH PUCH hatte seinen neuen Tempel. Und die Welt würde wieder ihm gehören.

ENDE

2 Kommentare zu „GOTT DER SECHS HÖLLEN

    1. Danke! Schön, dass sie dir gefallen hat und ich hoffe du konntest trotzdem schlafen;) Schließlich treibt ein weitaus grauenhafteres Wesen zurzeit sein Unwesen in den Staaten… eins, an das der gute AH PUCH nicht drankommt… eins mit einer blonden Tolle. Das ist ein wirklicher Alptraum.

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